“Wir kriegen euch alle!” – Nicht nur aufgrund der menschenverachtenden Andeutung sollte diese Parole auf Kundgebungen/Demonstrationen von Kontexten, die sich als emanzipatorisch verstehen, keine Verwendung finden bzw. Kritik hervorrufen, sobald sie dennoch skandiert wird. Auch sollte sie keine Verwendung finden, da ihr menschenverachtender Gehalt, während sie beim Pogrom in Rostock-Lichtenhagen gegrölt wurde, zum Vorschein kam.
Zwischen dem 22. und 26. August 1992 – und damit vor nunmehr 25 Jahren – versammelten sich mehr als 4.000 Deutsche, darunter hunderte Neonazis und damit dennoch mehrheitlich Personen, die sich als gesellschaftliche “Mitte” betrachtet hätten bzw. dies auch wurden, um gewalttätig gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZaST) sowie das von vietnamesischen DDR-Vertragsarbeiter*innen bewohnte “Sonnenblumenhaus” vorzugehen.
Nach mehrtägigen Angriffen war es dem Mob gelungen die Geflüchteten aus dem Viertel zu jagen. Anschließend griffen sie mit Steinen und Brandsätzen die nahegelegene Wohnunterkunft der vietnamesischer DDR-Vertragsarbeiter*innen an. Das mehrtägige Pogrom wurden begleitet von frenetischen Jubel sowie dem Rufen von Parolen wie “Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!” und eben “Wir kriegen euch alle!”.
Dass sie vor allem letzteres wollten und erreichten, zeigte sich durch das Agieren der deutschen Rassist*innen sowie den Folgen: Um “alle zu kriegen” wurden beide Gebäude mit Steinen und Molotowcocktails angegriffen. Nachdem die ZaST am 24. August geräumt wurde, konzentrierten sich die Angriffe auf das weiterhin bewohnte “Sonnenblumenhaus”, in dem sich zu diesem Zeitpunkt noch 115 Vietnames*innen befanden. Das Gebäude wurde weiter mit Steinen und Brandsätzen beworfen, in die untersten Etagen wurde sich Zugang verschafft, geplündert und Inventar angezündet. Folglich brannte es auch im “Sonnenblumenhaus” und die deutschen AngreiferInnen bewegten sich im Haus und versuchten in weitere Etagen vorzudringen.
Sie wollten ihre Drohung “Wir kriegen euch alle!” in die Tat umsetzen. Die Eingesperrten mussten sich selbst helfen und entkamen erst über das Dach erst in die benachbarte, leerstehende ZaST. Dort weiter in erreichten sie ein anderes, bewohntes Haus (Aufgang Nr. 15), in dem ihnen erst nach zahlreichen Versuchen eine (!) Tür für Frauen und Kinder geöffnet und damit Hilfe und Schutz gewährt wurden.
So betrachtet, ist es beim “bloßen” Wollen der RassistInnen geblieben. Doch nur scheinbar. Zwar Glücklicherweise wurde während des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen keine Person getötet, aber erreicht wurde seitens der RassistInnen ihre angestrebten Ziele. Sie brauchten gar nicht “alle zu kriegen”, denn der Staat erledigte, was sie forderten: Die Abschiebung vieler der 115 Vietnames_innen sowie der Asylsuchenden aus Rumänien. So erfuhr das “Wir kriegen euch alle!” durch staatliche Unterstützung quasi einer Erweiterung. “Wir kriegen euch alle! Und schieben euch ab!”.
Auch erzielten sie das Einlenken der SPD auf die Linie von CDU/CSU. Und damit die Abschaffung des damaligen Asylrechtes. Die Pläne zur Grundgesetzänderung lagen bereits in der Schublade, eine Kampagne gegen Asylsuchende war im vollen Gange und Rostock-Lichtenhagen wurde zynischer Weise als letztes Argument für die Abschaffung des Asylrechtes und damit des Grundrechts auf Asyl herangezogen. Jene Änderung wurde im Juni 1993 letzten Endes vollzogen.
Mit dieser Veranstaltungsreihe wollen wir uns mit dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen näher auseinandersetzen und eine andere/weitere/ergänzende/zusätzliche Perspektive eröffnen, die lange fehlte: Die der Betroffenen, der im “Sonnenblumenhaus” eingesperrten Vietnames*innen.
Ein weiterer ausführlicher Text zum Pogrom in Rostock: „Rassistische Kontinuitäten – Aufruf zu bundesweiten Aktionen anlässlich des 25. Jahrestages der Pogrome von Rostock-Lichtenhagen“
Veranstaltungen:
9. August, Mittwoch
Film “The Truth lies in Rostock”
Um 19 Uhr beim Skorbut-Tresen in der Meuterei (Zollschuppenstraße)
August 1992,Rostock Lichtenhagen.
Die Polizei schaut einfach zu, als Faschisten die Zentrale Aufnahmestelle für Geflüchtete (ZAST) und ein Wohnheim von vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen mit Molotowcocktails bombardieren.
Eine Montage mit Videomaterial, gedreht aus den angegriffenen Häusern, Interviews mit Antifaschist*innen, den vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen, der Polizei, mit Bürokraten, Neonazis und Anwohnern.
Eine Dokumentation über das heimliche Einverständnis der Politik und über die verbreitete Angst.
18. August, Freitag
Vortrag in der Stö (Connewitz)
Um 19 Uhr in der Stö.
Rostock-Lichtenhagen 1992: Kontext, Dimensionen und Folgen rassistischer Gewalt
mit Autoren der Studie „Antiziganistische Zustände 2“
Die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen im August 1992 gelten als die massivsten rassistischen Ausschreitungen oder gar das größte Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte: Tagelang wurden die Bewohner*innen einer Flüchtlingsunterkunft und eines Wohnheims für vietnamesische Vertragsarbeiter*innen mit Steinen und Brandsätzen angegriffen, während Tausende ihrer Nachbarn Beifall klatschten. Nachdem die Polizei sich auf dem Höhepunkt der Gewalt zurückgezogen hatte, entgingen mehr als 100 Menschen in dem brennenden Haus nur knapp dem Tod in den Flammen. Der Eskalation vorausgegangen war ein anwachsender Rassismus in den Medien und der Politik. Ihr folgte nicht nur eine Welle rechter Gewalt, sondern auch die weitgehende Einschränkung des Grundrechts auf Asyl.
Bundespolitische Debatten um vermeintliche “Scheinasylanten” und “Zigeuner”, institutionelles Versagen in der Flüchtlingspolitik und eskalierende rechte Gewalt kamen in Rostock in einer verheerenden Dynamik zusammen. Hinterfragt werden muss insbesondere die Beteiligung der vielen ungezählten Anwohner*innen, die jeden Brandsatz mit Jubelrufen begrüßten. In ihrer konformistischen Revolte verstanden sie sich nicht als Außenseiter*innen oder gar “Extremisten”. Sie wähnten sich in der Mitte der Gesellschaft, gar als Stimme des Volkes.
23. August, Mittwoch
Kundgebung: „Aktiv Gedenken statt schweigend vergessen! In Erinnerung an alle Opfer rechter Gewalt.“
17:30 Uhr Schwanenteich hinter der Oper in Leipzig
Aufruf: Hier
24. August, Donnerstag
Sonnenblumenhaus – Das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen
Einlass um 18:45 Uhr (Beginn 19 Uhr) auf der Fläche des Sommerkinos im Conne Island (Koburger Straße 3)
Am 25. August kommt es im Rahmen des 25. Jahrestages des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen zur Aufführung des Theaterstücks “Sonnenblumenhaus“ im Institut fuer Zukunft (IfZ).
Das von Dan Thy Nguyen und Iraklis Panagiotopoulos produzierte Stück dokumentiert das rassistische Pogrom von Rostock 1992 und „verarbeitet die Sicht der belagerten Menschen“. Diese wurden dafür ausfindig gemacht und interviewt. Aus ihren Aussagen wurde das Stück entwickelt.
Wir möchten die Gelegenheit nutzen, um mit Dan Thy Nguyen vor der Aufführung im IfZ über das Pogrom in Rostock zu sprechen. Kunst- und Kulturschaffende haben oft die Möglichkeit, mit ihren Arbeiten Menschen auch außerhalb von politischen Zusammenhängen und Kontexten zu erreichen und sie zu einer intensiven, wenn auch zeitlich begrenzten, Auseinandersetzung mit ihren Themen zu bewegen. Vor welchen Herausforderungen sie dabei auch stehen, wenn es um die Erinnerung an Ereignisse wie in Rostock geht, werden wir ihn fragen.
25. August, Freitag
Theaterstück: “Sonnenblumenhaus” im Institut fuer Zukunft (IfZ) Tierkliniken 38-40
von Dan Thy Nguyen und Iraklis Panagiotopoulos
mit Claudiu M. Draghici, Jan Katzenberger, Djamila Manly-Spain
Regie: Dan Thy Nguyen
1992 belagerten hunderte Neonazis und tausende Anwohner_innen tagelang eine Erstaufnahmestelle für Asylsuchende und einen angrenzenden Wohnblock ehemaliger vietnamesischer Vertragsarbeiter_innen in Rostock-Lichtenhagen. Über Tage heizte sich die Stimmung auf, ohne dass die Polizei nennenswert intervenierte. Schließlich flogen Brandsätze und die Gebäude wurden gestürmt. Das Theaterstück dokumentiert das größte und fast vergessene rassistische Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte und verarbeitet die Sicht der Überlebenden.
Einlass 18:30
Beginn 19 Uhr
Eintritt 5-10 Euro
Eine Kooperationsveranstaltung zwischen „Rassismus tötet!“-Leipzig, der Initiative „Leipziger Rede“ und dem Kulturraum e.V. (KReV).