Am 19. Mai möchte Thilo Sarrazin sein neues Buch “Wunschdenken” in der Handelsbörse am Naschmarkt vorstellen. Mit ihm sprechen will LVZ-Chefredakteur Jan Emendörfer, womit die LVZ wie beim Buch „Deutschland schafft sich ab“, die Bühne für die „Thesen“ Sarrazins bereitet. Eingeladen zur Veranstaltung hat die CDU-Mittelstandsvereinigung. Deren Kreisvorsitzender ist Ronald Pohle, der im vergangenen Dezember „Gummigeschosse gegen Chaoten“ gefordert hat.
„Gegen Intelligenzgefälle – von SPD bis LVZ“
Erneut versucht Sarrazin die angebliche intelligente deutsche Elite, vor den nicht so „gebildeten“ zu warnen und zu schützen, denn Deutschland droht angesichts des Ansturms von »Millionen kulturfremden Einwanderern mit durchschnittlich niedriger kognitiver Kompetenz«, der weitere Abstieg. Wie wichtig ihm auch das innerdeutsche Intelligenzgefälle ist, war schon 2010 in Potsdam sehr aufschlussreich. Beachtet sei das vor sechs Jahren von ihm bestätigte „Intelligenzhoch“ in Sachsen und besonders in Dresden.
In der berechtigten Kritik über den grassierenden Rassismus (1) wird jedoch das politische Konzept gerne übersehen, das Sarrazin in seiner Schriften propagiert – und das mit seinem Rassismus aufs Engste verknüpft ist. Dem promovierten Ökonom, der bereits in den 1970er und 1980er Jahren einflussreiche Positionen in Bundesministerien innehatte, treibt vor allem eine Sorge an: die Sorge, dass der deutsche Nationalstaat stark und mächtig bleibt.
Das wird Sarrazin zufolge nur dann möglich sein, wenn die Basis des heutigen deutschen Einflusses in aller Welt, eine kraftvoll exportierende Industrie auf technologisch modernstem Niveau, auf Dauer erhalten bleibt. Dafür brauche Deutschland eine Bildungselite. Bei der Suche nach dieser stellt er immer wieder fest: Die so genannte Unterschicht steigt in Deutschland kaum in diese auf. Grund ist die sehr geringe Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems, heißt es in seriösen Analysen. Sarrazin behauptet dagegen, Grund sei vielmehr die Erblichkeit von Intelligenz. Die Elitenförderung unter „Deutschstämmigen“ gehört elementar zu seinem Programm. Gute Intelligenznoten erteilt er darüber hinaus Menschen aus Asien, stellt jedoch mit Bedauern fest: »Nach Deutschland drängen die hochbegabten Inder und Chinesen leider nicht«.
»Türken und Araber« aber, die seit den 1960er Jahren in die Bundesrepublik geholt wurden, um den Arbeitskräftemangel zu decken, also Tätigkeiten ausführten, die heute dem Niedirglohnsektor zuzuordnen sind, hält Sarrazin für weitaus weniger intelligent als die deutsche Bevölkerung – und dies sei erblich bedingt. »Eine große Zahl an Arabern und Türken«, schimpfte er schon 2009, »hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel«, und es werde sich »vermutlich auch keine Perspektive entwickeln«. Dieser Bevölkerungsteil »muss sich auswachsen«, forderte er damals. Seine entwickelten Vorschläge, wie das geschehen kann: mit Kürzungen bei den Sozialleistungen, mit starkem Druck auf islamisch-geprägte Milieus, der seine Objekte zur Auswanderung treibt – und mit einem rigiden Einwanderungsstopp.
Sarrazin bietet ein durch und durch rassistisches Konzept, wie Deutschland seine ökonomisch nicht benötigten „Unterschicht” loswerden könne. Durchsetzbar dürfte es hierzulande bei einem weit verbreiteten Rassismus und Sozialdarwinismus (2) ohne Probleme sein. Mehr als die Hälfte der Besserverdienenden hält Langzeitarbeitslose für „willensschwach, an ihrer Lage selbst schuld und für die Gesellschaft nutzlos“. Das wird dann schnell in politische Forderungen übersetzt. Franz Müntefering, damaliger SPD-Bundesvorsitzender, Vizekanzler und Bundesminister für Arbeit und Soziales sagte im Mai 2006: »Nur wer arbeitet, soll auch essen.« Durch solche Statements werden sozial Benachteiligte entmenschlicht und abgewertet.
Sozialdemokratie tötet!
Sarrazin ist nicht in der falschen Partei, sondern bei den Sozialdemokrat_Innen genau am richtigen Ort. Mit der Niederschlagung der Novemberrevolution 1918 wurde frühzeitig bewiesen, dass die SPD für eine Law-and-Order-Politik ohne Kompromisse steht. Auch wenn dafür die Demokratie gelegentlich in Blut gebadet oder ein linker Dissident zum Schweigen gebracht werden muss. Dieser Tradition wird sich bis heute treu geblieben. Ruhe und Ordnung sind dank der Mithilfe der Sozialdemokratie inzwischen zu weltweiten Exportschlagern geworden. So kann auf eine lange Tradition der militärischen Intervention in internationalen Konflikten zurückgeblickt werden. Sei es das Engagement für den Ersten Weltkrieg oder die „Humanitären Einsätze“ im Kosovo, Afghanistan oder irgendwo sonst auf der Welt wo die deutsche Sicherheit gefährdet war. Die immer wieder vorgetragenen Positionen Thilo Sarrazins sind in der SPD keine „Randerscheinung“, sondern Teil der politischen Ausrichtung.
»Sarrazins Behauptung, dass es besondere kulturelle Eigenschaften von Volksgruppen gibt, kann heute niemand mehr mit Sachkenntnis bestreiten«, sprang der ehemalige SPD-Bundesbildungsminister Klaus von Dohnanyi Sarrazin schon einmal bei. »Im Schatten unserer Geschichte und eines oft allzu einseitigen Bildes unserer Selbst scheuen wir uns vor Debatten und Worten, die bei anderen Völkern gang und gäbe sind«, fügte der Sozialdemokrat an und weiter: »Also bitte keine Feigheit mehr vor Worten wie Rasse, Juden, Muslime. Es gibt sie. Man darf über sie nachdenken, man darf sie benutzen.«
Für eine solidarische Gesellschaft
Alles in allem erinnert vieles an die »Das Boot ist voll«-Kampagne zu Beginn der 1990er Jahre: Die Medien quollen, damals gespeist von einem Konsens der deutschen Eliten, von rassistischer Stimmungsmache gegen die Asylsuchende über. Das Ergebnis der Kampagne war höchst konkret: 1993 wurde das alte bundesdeutsche Asylrecht faktisch abgeschafft. Deutschland machte sich auf den Weg, zur globalen Macht zu werden; Geflüchtete, die Kosten verursachten und keinen direkten ökonomischen Nutzen brachten, waren unerwünscht.
Heute, da die Bundesrepublik sich im globalen Konkurrenzkampf durchsetzen will, steht nach Auffassung von Teilen der Eliten ein weiterer Schritt an. Er richtet sich gegen die ökonomisch nicht benötigte “Unterschicht”; eine Art Programmentwurf zum Thema wird regelmäßig von Thilo Sarrazin neu aufgegossen. Sarrazins Pamphlete geben die Richtung an, in die inzwischen Regierungsapparate praktisch zu arbeiten beginnen. Wie zu Beginn der 1990er Jahre geht es dabei nicht primär um rassistische Rhetorik und rassistische Debatten, sondern um höchst konkrete rassistische Politik.
Wir werden uns immer gegen Rassismus und Sozialdarwinismus stellen. Daher kann so eine Veranstaltung wie am Donnerstag auch nicht ohne unseren entschiedenen Widerstand statt finden.
Gegen jeden Sozialdarwinismus und Rassismus! – Gegen jede Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft!
Kundgebung um 18 Uhr am 19.Mai 2016 Grimmaische Straße / Naschmarkt
FUßNOTEN:
(1) Auch wenn es in der Mehrheitsgesellschaft sowie einigen “linken” Zusammenhängen en vogue ist, Rassismus nicht als solchen zu benennen, sondern als “Ausländerfeindlichkeit” oder “Fremdenfeindlichkeit”, benutzen wir diesen bewusst. Sowohl “Ausländerfeindlichkeit” als auch “Fremdenfeindlichkeit” reproduzieren Rassismus, wird den Betroffenen doch unterstellt “fremd” bzw. “ausländisch” zu sein. Letzteres betrifft auch keine rechtliche Stellung, sondern den als “fremd” oder “ausländisch” stigmatisierten Menschen wird eine Abweichung zugeschrieben, die sich auf ihr Äußeres oder ihre vermeintliche Kultur bezieht, beides jedoch nicht der hiesigen Norm entspräche. So sind Menschen von rassistisch-motivierter Gewalt betroffen, die nicht-weiß sind, aber in Deutschland geboren und aufgewachsen sind und die hiesige Staatsangehörigkeit besitzen.
(2) Sozialdarwinismus ist, beruhend auf der Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft, ein Denken, das Menschen nach ökonomischen Nützlichkeitskriterien bewertet. Es teilt in Gewinner_innen und Verlierer_innen ein, schreibt ihnen somit einen gesellschaftlichen Marktwert zu, womit die Abwertung von Menschen einhergeht. Menschen, denen keine Nützlichkeit zugeschrieben wird, werden als unnütz angesehen, gar als unwert. Dieser Mechanismus richtet sich gegen die vermeintlichen Verlierer_innen dieser Verwertungslogik, denen ihre eigene soziale Situation vorgeworfen wird, sie seien im Grunde selber Schuld an ihrer Lage. So wird aus einer realen sozialen Ungleichheit eine Ungleichwertigkeit gemacht.